Früher sagte mein Mann ganz häufig am Ende der Wochenenden: „Toll, was wir wieder alles am Wochenende geschafft haben.“
Mich irritierte dieser Satz jedes Mal, wenn er ihn aussprach. Seit wann ist ein Wochenende nur dann gut, wenn man etwas „schafft“? In meiner Kindheit war das Wochenende da, um sich zu erholen und um als Familie eine gute gemeinsame Zeit zu verbringen.
Ich habe damals zum ersten Mal gemerkt, wie sehr dieses Leistungsdenken unser Leben durchzieht. Wir maßen sogar freie Zeit an To-do-Listen. Selbst am Wochenende galt es, die Tage zu nutzen, um irgend etwas zu erledigen.
Jetzt, auf der Heimfahrt vom zweiwöchigen Dänemark-Urlaub, meinte mein produktiver-Wochenende-Mann zu mir, dass ich nicht mal im Urlaub unproduktiv sein könne. Tatsächlich habe ich es nicht übers Herz gebracht, mal einen Tag ausschließlich im Ferienhaus zu relaxen. Ich habe meine Familie jeden Tag „rausgescheucht“. Ich war der Meinung, wenn wir am Meer Urlaub machen, dann müssen wir es auch jeden Tag sehen. Ein Nichts-tu-Tag wäre für mich vergeudetete Zeit gewesen. Ich bin also auch nicht besser, als mein Mann!
Wir leben in einer Welt mit der Währung „Produktivität“. Schon Kinder lernen, dass ihr Wert davon abhängt, wie viel sie leisten. Schüler werden mit Hausaufgaben übers Wochenende „bedacht“, ihre Leistungen werden benotet. Erwachsene verwechseln ihren Kalender mit ihrem Selbstwert. Ein faules Wochenende? Wie langweilig! Da wird der Dachboden entrümpelt, nach Rezepten für den Kuchenbasar gegoogelt und noch schnell die Präsentation für die nächste Arbeitswoche vorbereitet. Überhaupt: Fleiß ist eine Tugend! Faulheit eine Sünde. Sogar die Selbstfürsorge-Techniken, wie lesen, malen oder spazieren gehen, werden zur Pflicht und mittels Habit Tracker fein säuberlich abgehakt. Sie werden damit zu aktiven und dokumentierten Aufgaben und somit erhalten sie die Legitimation der Nützlichkeit.
Aber was bleibt von uns übrig, wenn wir nur noch funktionieren?

Warum wir glauben, nur als „produktive Menschen“ wertvoll zu sein
Wir sind in einer Leistungskultur groß geworden. Schnell, höher, weiter – das sind nicht nur Schlagworte, sondern Glaubenssätze. Pausen fühlen sich fast verboten an. „Ich habe keine Zeit“, ist für viele ein Statussymbol. Doch dahinter steckt die Angst, dass wir nichts wert sind, wenn wir nicht liefern.
Die permanente Nutzung des Smartphones mit all seinen Apps, schürt dieses Phänomen zusätzlich. Wir vergleichen uns auf Social Media mit Fitness-Influencern, Reise-Profis und Ordnungsprofilen und fragen uns, wie um alles in der Welt es Petra schafft, täglich ein warmes Abendessen frisch zu kochen, oder wann Bärbel monatlich acht Romane liest. Es gibt Apps, die damit werben, die wichtigsten Fachbuchinhalte in fünfzehn Minuten zusammenzufassen. So können Pausen sinnvoll gefüllt werden. Moment! Pausen füllen? Dann sind es doch keine Pausen mehr!
Zwei aktuelle Beispiele für Apps, die ich derzeit nutze und die ebenfalls mit dem Prinzip der Leistungsbelohnung arbeiten: 1. die Sprach-App „Duolingo“. Ich möchte ein wenig dänisch lernen. Lockerflockig, ohne Zwang! Aber die App macht einen Wettbewerb daraus: Ich kann mich mit anderen vergleichen. Schaffen die mehr Lektionen am Tag als ich? Außerdem gibt es einen Tageszähler. Die App möchte, dass ich nicht nur lerne, wenn ich Lust darauf habe, sondern täglich! Zweites Beispiel: Meine App, die ich mir heruntergeladen habe, um Insekten bestimmen zu können, hat eine Rangliste. Je mehr Krabbler ich finde, desto höher steige ich im Ranking.
Ist das alles noch gesund?
Die stille Erschöpfung hinter dem Dauer-Output
Produktiv zu sein fühlt sich lange Zeit gut an. Wir freuen uns über unsere Leistung. Wir bekommen Lob. Das schwierige daran ist aber, dass wir uns an unser Produktionsniveau gewöhnen und es sogar steigern. Fast unmerklich springen wir auf den schneller-höher-weiter-Zug auf. Bis es kippt. Bis wir merken, dass wir zwar viel geschafft, aber uns selbst dabei verloren haben. Die Erschöpfung kommt schleichend und sie zeigt sich oft zuerst in kleinen Dingen: Wir lachen weniger, wir genießen weniger, wir leben mehr auf Autopilot als aus dem Herzen heraus. Die Achtsamkeit verblasst und damit auch die echte Freude am Leben. Vielleicht sind wir dann einfach nur unzufrieden. Irgendwann aber entwickeln wir merkliche Anzeichen unseres Raubbaus. Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Magenschmerzen… Die ganze Bandbreite an Stresssymptomen. Aber auch dann findet bei einigen von uns noch kein Umdenken statt. Anstatt das Tempo vom Hamsterrad zu drosseln, denken wir, wir sind nicht widerstandfähig genug. Wir müssen uns einfach weiter optimieren, um den Anforderungen stand zu halten. Wir buchen deswegen den Yogakurs – zusätzlich!
Wie Selbstfürsorge produktiver ist als jede To-do-Liste
Das Paradoxe ist: Wer sich echte Pausen erlaubt, wer sich ernsthaft um sich kümmert, wird langfristig produktiver. Nicht, weil Selbstfürsorge ein Mittel zum Zweck ist, sondern weil sie uns in Balance bringt. Eine Pause ist kein Stillstand. Sie ist ein bewusstes Auftanken, damit wir klarer denken, besser fühlen und nachhaltiger handeln können.
Schau dir die Tiere an: Löwen schlafen bis zu 20 Stunden am Tag, Katzen liegen herum, als wäre Nichtstun ihre Berufung, und selbst Hunde wissen, wann es Zeit ist, einfach nur in der Sonne zu dösen. Niemand misst ihren Wert daran, wie viele Aufgaben sie erledigen.
Warum erwarten wir das von uns?
Was echte Selbstfürsorge wirklich bringt
Wer sich dem Müßiggang hingibt, wird oft mit Dingen belohnt, die sich nicht planen lassen:
✨ Gedanken, die sich endlich sortieren
✨ Ideen, die aus dem Nichts auftauchen
✨ neue Möglichkeiten und Denkweisen
✨ Ein ungewohnter Fokus auf sich selbst
✨ Die Rückkehr der eigenen Neugier
Nichts davon lässt sich erzwingen. Aber alles davon wächst dort, wo ein Raum dafür erschaffen wird.
Dein persönlicher Anti-Produktivitäts-Moment
Was wäre, wenn du dir heute erlaubst, nicht produktiv zu sein? Wenn du eine selbst gewählte Zeit lang nur da bist – ohne Ergebnis, ohne Ziel? Wenn du einfach mal nur dasitzt, oder etwas tust, ohne am Ende etwas erreicht zu haben? Oder wenn du ganz bewusst etwas nicht tust, was von dir verlangt wird? Wenn du zum Beispiel (wie ich) deinen Duolingo-Streak brichst und mal alle Fünfe gerade sein lässt? Vielleicht merkst du dann, dass der Wert deines Lebens nicht in To-do-Listen gemessen wird, sondern in den Momenten, in denen du dir für dich Zeit nimmst.
Warum ich meinen Kindern ganz bewusst vorlebe, wie Selbstfürsorge geht und was das mit meiner Mutter zu tun hat, erfährst du in meinem Blogbeitrag Warum mir Selbstfürsorge wichtig ist und wie ich sie einfach in den Alltag integriere
2 Kommentare zu „Der Mythos vom immer produktiven Leben“